Carcass - Surgical Steel

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VÖ: 13.09.2013
Bandinfo: CARCASS
Genre: Death Metal
Label: Nuclear Blast GmbH
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Lineup  |  Trackliste

OH – MEIN – GOTT. Das waren meine ersten Gedanken, als mir vor geraumer Zeit zu Ohren kam, dass die britische Death-Metal-Legende CARCASS nach der livehaftigen Reunion tatsächlich ein neues Studioalbum aus dem Kerbholz schnitzen würde. Eines vorweg – mir ist es einfach unmöglich, eine Scheuklappen-freie Rezension zu verfassen. Das liegt aber nicht am über alle Zweifel erhabenen Backkatalog oder der unbestreitbaren Coolness von Bandleader Jeff Walker, sondern schlichtweg an „Surgical Steel“, diesem heroenhaften Bastard aus Einfallsreichtum, spielerischer Fertigkeit und – ja – Perfektion. Wie oft haben wir in den letzten Jahren Reunions von alten Helden erleben dürfen? Wie oft landeten diese einstmaligen Helden einen veritablen Bauchfleck? Wie oft kratzten diese Helden unbewusst erfolgreich am eigenen Kult? Das alles gibt es bei CARCASS nicht.

Jeff Walker und sein Longtime-Buddy Bill Steer sind in Würde gealtert, haben sich jetzt jahrelang warm gespielt und sich auch genug Zeit genommen, um kein halbgares Produkt vorzulegen, sondern mit etwas wirklich Überlegtem um die Ecke zu biegen. So knüpft „Surgical Steel“ schon beim furchterregend-genialen Cover-Artwork an das medizinische Grundschemata und die Vergangenheit der Band an, ohne aber dabei den Sprung in die Jetztzeit verpasst zu haben. Wie könnte man ein Intro auch besser nennen als „1985“? Das legendäre Jahr, in dem nicht nur der Death Metal leise zu sprießen begann, sondern in dem CARCASS noch unter dem Namen DISATTACK Hardcore/Punk ins britische Kellerpublikum schmetterten. Die majestätische Melodielinie des hervorragend inszenierten Instrumentals erinnert gleich an Gitarrengott Michael Amott, nur das dieser mit dem Albumprozess gar nichts mehr zu schaffen hatte. Neben Steer würgt der noch recht unbekannte junge Ben Ash die Axt.



Nach dem filigranen Beginn bricht die Hölle ein. Bei „Thrasher’s Abbatoir“ ist der Name Programm. In dem kurzen Stück flitzen die ersten Gitarrensoli, Walkers einzigartige Keif-Stimme lässt im CARCASS-Lunatic unweigerlich wohlige Nestwärme aufkommen und die thrashige, ein bisschen an MEGADETH und DEMOLITION HAMMER erinnernde Attitüde passt wie der viel zitierte Arsch auf Eimer. „Cadaver Pouch Conveyor System“ ist dann gleich darauf das erste richtig fette Highlight auf diesem Überalbum. In ICE-Geschwindigkeit rattern Riffs und die Blastbeats des hervorragenden Jung-Drummers Daniel Wilding (TRIGGER THE BLOODSHED, ex-ABORTED) durch die Gehörgänge. Das durch ein memorables Gitarrensolo verstärkte Riffmassaker im zweiten Drittel ist DAS CARCASS-Trademark. Wer hätte den Oldies nach 17 Jahren (!!) Albumpause tatsächlich noch so viel Frische zugetraut?

„A Congealed Clot of Blood“ gibt dann erstmals etwas Zeit, um durchzuschnaufen. Was aber nichts anderes bedeutet, dass man eine kaputte Atmung durch ein ausgerenktes Genick ersetzt, denn so messerscharf wie Steers Riffs aus dem Äther galoppieren und sich mit Walkers furioser Stimme um die Vorherrschaft duellieren, kommt man dem Headbang-Propeller nicht aus. Das vielleicht frühe größte Highlight (so man das herausfiltern kann) nennt sich „The Master Butcher's Apron“ und kombiniert als erster Song des Albums sämtliche Stärken des bandinternen 1993er Kultwerks „Heartwork“. Unbeschreiblich eindringliche Mid-Tempo-Gitarrenwalzen, perfekt konzipiert Melodie-Hooklines und ein stets aggressive, aber niemals überbedrohliche Rahmenatmosphäre. Der vielleicht beste Death-Metal-Song, der bislang in diesem Jahrtausend veröffentlicht wurde! „Noncompliance To ASTM F 899-12 Standard“ schließt nahtlos an die vorherige Nummer an, konzentriert sich aber auf eine ruppigere Verfahrensweise und fordert den Hörer etwas mehr heraus. Die reduzierte Herangehensweise am Ende des Songs lässt die instrumentalen Fähigkeiten der Bandmember zudem im rechten Licht erscheinen.



Mit den folgenden Tracks geraten CARCASS ebenso wenig in Versuchung, eventuelle Qualitätseinbußen zu verzeichnen. Meist oszillieren die Songs von Walker und Co. mit technischen Finessen, bauen aber in den richtigen Momenten Breaks und Tempiwechsel ein, um die Spannung hochzuhalten. Am Ende gehen CARCASS schließlich noch einmal in die Vollen. Das bereits seit Längerem bekannte „Captive Bolt Pistol“ war als erster Appetizer für die Fanscharen sicherlich eine gute Wahl, kann aber trotz seiner beneidenswerten Präzision nicht so ganz mit anderen Songs auf „Surgical Steel“ mithalten. Mit dem abschließenden Acht-Minüter „Mount Of Execution“ haben sich Walker und Konsorten aber ohnehin ihr eigenes Akustik-Monument erschaffen. Mit einer sanft-ruhigen Akustikgitarre einleitend, schält sich der pompöse Song langsamer aber um wirkungsvoller als alle anderen aus seinem Kokon und besteht aus einer unheimlich gut durchdachten Konsistenz, verschiedener Bandphasen. Was für DEATH „Crystal Mountain“, für SLAYER „South Of Heaven“ und für LED ZEPPELIN „Stairway To Heaven“, ist für CARCASS „Mount Of Execution“: Der kleinste gemeinsame Nenner, worum sich Fans und Anhänger verschiedenster Couleur auf immer und ewig an ihre Helden erinnern werden.

„Surgical Steel“ ist nicht nur das beste Album des Jahres, sondern ein gewichtiges, wenn nicht sogar überlebenswichtiges Statement in einem immer unkreativer werdenden Metal-Subgenre. Das aktuelle CARCASS-Werk schafft es tatsächlich auf mühelose Art und Weise, nicht nur die legendäre „Heartwork“ würdig weiterzuführen, sondern auch genügend Zitate von „Necroticism“ (1991) und der zwiespältig aufgenommenen „Swansong“ (1996) zu integrieren. Grindcore, Death Metal und der vordergründig hörbare Melodic Death Metal geben sich ein kurzweiliges Stelldichein und tanzen lieber zusammen im Ringelpiez als sich gegenseitig anzufeinden und den Flow des Albums zu zerstören (mehr dazu lest ihr im ausführlichen Interview mit Jeff Walker). „Surgical Steel“ ist ein gottverdammtes Meisterwerk, eine Bestätigung des kreativen Wachstums und vertontes Kultobjekt, von dem man in Jahrzehnten noch so hymnisch schwärmen wird, wie heute von „Reign In Blood“, „Legion“ oder „Tomb Of The Mutilated“. Göttlich!



Bewertung: 5.0 / 5.0
Autor: Robert Fröwein (04.09.2013)

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