MYOSOTIS - Distance

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VÖ: 00.07.2017
Bandinfo: MYOSOTIS
Genre: Metalcore
Label: Eigenproduktion
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Lineup  |  Trackliste

„We let go. All the love and hope will come back some day. We are painting our paradise. We let go. But colors are fading to gray.“ So lauten einige Zeilen eines schmerzhaften Abschieds im Song „Myosotis“ von COUNT II ZERO. Von dieser Post-Hardcore-Band trennte sich der Hamburger Sänger Kilian 2016 und nahm den Titel des Songs mit. Gemeinsam erst mit Thomas, dann auch mit Max, Timo, Julian und Calvin entstanden MYOSOTIS, die nun ihren ersten Tonträger veröffentlicht haben: „Distance“.

„Tides“ – Das Meer kommt und es geht

Die EP umfasst fünf Songs, die von einem Intro namens „Tides“ eingeleitet werden. Dieses entwickelt aus den sanften Klängen von Wellen, die mehr und mehr von dominanter werdenden Trommeln und Streichern abgelöst werden, eine aufkeimende, sich anbahnende Kraft, die bereits viel Energie, vor allem aber auch eine tiefgreifende Emotionalität verspricht. Schon hier wird das Thema der EP entwickelt: „Distance“, die Distanz, die sich selten besser versinnbildlicht als in der Endlosigkeit des Meeres. Auch die verspielte Präzision, mit der das Intro komponiert wurde, verspricht eine bemerkenswerte musikalische Bereicherung der Musik von MYOSOTIS durch Klänge aus dem Rechner.

Fließend geht es musikalisch wie thematisch in den ersten Song über. „Waves“ handelt vom Festhalten. Mit Passagen wie „Don't want to be reborn. I'm holding on to this life.“ bildet er einen scheinbaren Kontrast zum eingangs erwähnten „We let go“, fängt damit jedoch in erster Linie die Thematik von Bindung und Trennung, Nähe und Distanz, Festklammern und Loslassen wieder auf, die nicht nur den EP-Titel, sondern auch den Bandnamen bestimmt. MYOSOTIS ist der lateinische Name des Vergissmeinnichts – eine zarte Pflanze, die wie sonst kein Sinnbild für die Vereinigung der Dichotomie von Nähe und Distanz steht: Trennen, aber nicht vergessen, gehen, aber im Herzen bleiben. Es ist schön zu sehen, wie hier Bandname, EP-Titel und der Inhalt des ersten Songs feinfühlig ineinandergreifen. Das Bild ist rund.

Vergissmeinnicht – Loslassen und Festhalten

Und es setzt sich im ansprechenden Cover – entworfen in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Jan Termath – fort. Es zeigt zwei Menschen in „Shapes and Sillouettes“ („Myosotis“ von COUT II ZERO), die einander den Rücken zukehren und sich in Splittern und Blüten auflösen. Zwischen ihnen das Vergissmeinnicht – die Unmöglichkeit der Nähe mit dem Wunsch, Bedeutung zu erhalten. In den unteren Ecken befinden sich – in umgekehrter Positionierung – ebenfalls Splitter und Blüten, als wollten sie den sehnsüchtigen Wunsch erfüllen, den Auflösungsprozess aufzufangen und die Distanz wieder umzukehren – vielleicht in einer fernen Zukunft?

Doch noch einmal zurück zum ersten Song „Waves“. Denn auch der macht in sich ein Gegensatzpaar auf. Während die Strophen von Härte, Verzweiflung, Kampf, Shouts und einem den Wellen angemessenen Chaos – „dragging me down“ – geprägt sind, findet sich im Refrain Hoffnung in Timos Klargesang: „The sea changed key“. Das Vor und Zurück zwischen hektisch Geshoutetem wie „Taking me back to what I've run from“ und dem hoffnungsvoll Freiheitlichen wie „a new melody, a remedy“ – ohne Auflösung – ist bewegend und ziemlich punktgenau.

„Der Song ist so konzipiert, dass er nach jedem "schönen" Höhepunkt wieder in eine Unruhe bricht. […] Das Ende wirkt wie der Anfang und unterstreicht somit den Zyklus, welcher undurchdringlich scheint.“ (Kilian zu „Waves“)

„Kein Mensch ist verdammt noch mal alleine.“

MYOSOTIS' moderner Metalcore mit Sample-Unterstützung bedient sich durchaus bekannter Muster, setzt sich aber keine sehr engen Grenzen. „Distorted Mind“ greift zur härteren Gangart. Breakdowns teilen sich den Song mit der erneut etablierten inneren Zerrissenheit: „Maybe it´s not the time to fade away. My mind tells me to stay.“ Der Fokus liegt hier auf der Schwierigkeit, für sich selbst zu kämpfen – ein weiterer Schwerpunkt, der sich noch wiederholen wird.

„Kein Mensch ist verdammt nochmal alleine. Auch wenn es sich oft so anfühlt, auch wenn die Welt oft grau zu sein scheint, auch wenn oft die Hoffnungslosigkeit regiert und einem allem Antrieb nimmt, wird es immer wieder die sonnigen Momente geben.“ (Kilian)

Die Themen sind insgesamt auffällig stark auf das Selbst und innere Konflikte fokussiert. Auch „Alice“ baut diesen psychologischen Pfad weiter aus. Der Song mit Anlehnung an Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ (1865), in dem auch die Grinsekatze zitiert wird, ist auf die Selbstfindung ausgerichtet, aber auch auf die hoffnungsvolle Überwindung schwieriger Lebenspassagen – eine passende Fortführung der ersten beiden Songs.

Nicht-Leben, Tod und Wiederbelebung: „We are MYOSOTIS!“

„NDE“ – near-death experience – lässt uns in Gedanken eintauchen, die eskapistisch bis todessehnsüchtig erscheinen: „To sleep, to dream, to build a better world, once for all.“ Insbesondere das wiederholte „I choose the other side“ geht tief und scheint im Tod zu enden.

Passend dazu heißt der letzte Titel dann „High Voltage“, denn hier gibt es die letzte Chance zur Wiederbelebung, den Defibrillator, die letzte Gelegenheit, sich für das Leben und für sich selbst zu entscheiden. „Is this what you really want, what you really want? Then take it, take it! Is there something that is stopping you, then break it, break it, break it, break it!“ Um einen einzelnen Kritikpunkt komme ich hier jedoch nicht herum: Warum wird ausgerechnet das starke „Break it!“ mit so wenig Härte versehen? Aber dieser Song ist das Finale und verhält sich auch dementsprechend. Er setzt ein deutliches Signal für das Leben und nimmt stilistische Merkmale seiner Vorgängertitel auf, um sie zusammenzuführen, aber auch noch einmal zu steigern. Insbesondere die Singalong-Passagen dürften live Band und Publikum vereinen und ein wunderbares Wir-Gefühl schaffen, auf das das norddeutsche Sextett großen Wert legt: „Niemand ist alleine. Wir alle sind eine Familie und halten zusammen! We are MYOSOTIS!“ (Kilian)

Fazit: Vergiss sie nicht!

MYOSOTIS machen mit der EP „Distance“ ihren ersten gemeinsamen Schritt hinaus in die Welt. Dabei zeigen sie nicht nur, dass sie ihr Genre hervorragend beherrschen, sondern auch, dass sie ihre eigene Musik durchdrungen haben. So viel Herz, so viel Leid und aber auch so viele gewichtige Gedanken stecken in den Klängen und Texten. Das ineinandergreifende Themenkonzept in Komposition, Text, Titeln, Cover und Namen beweist nicht nur eine große Liebe zur Musik, sondern auch zum Hörer. Gerade in der jeweiligen Verbundenheit der ersten beiden und der letzten beiden Songs fühlt man sich abgeholt, mitgenommen, eingebunden und begleitet – durch Geschichten vom Kampf mit sich Selbst.

So sitze ich zuhause vor dem Rechner und weiß mir nicht zu helfen, als MYOSOTIS für dieses beeindruckende Debüt zu applaudieren. Und doch bleibe ich streng und sehe noch kleine Ausbauchancen in der direkten Verknüpfung von Musik und Text. Doch jeder, der Metalcore mit der Mischung aus klaren und geshoutetem Gesang etwas abgewinnen kann, sollte hier den einen oder anderen Hördurchlauf in die EP „Distance“ investieren. Ich gehöre selbst zu den Skeptikern des Genres und bin ehrlich beeindruckt von MYOSOTIS.



Bewertung: 4.5 / 5.0
Autor: Jazz Styx (26.08.2017)

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