13.06.2020, Pannonia Fields II, Nickelsdorf

Nova Rock 2020 - das Festival das nie stattfand: Tag 4

Veröffentlicht am 14.06.2020

Nova Rock 2020 ist abgesagt – wie alle namhaften oder nicht so namhaften Festivals nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa, ja, weltweit. Es war ein Schock für die Freunde harter Musik, dass das renommierteste Festival unseres Landes wie so viel andere Veranstaltungen der Pandemie zum Opfer fiel. Getreu nach dem Motto „You can't cancel Rock'n'Roll!“, haben wir uns Gedanken gemacht, wie Nova Rock 2020 aussehen hätte können, wenn das Festival unter Einhaltung aller Corona-Sicherheitsrichtlinien doch stattgefunden hätte.

Hierzu haben wir uns in die Person eines durchschnittlichen Festivalbesuchers versetzt und seine fiktiven Erlebnisse auf dem Festival das nie stattfand protokolliert. Vielleicht hie und da ein klein wenig übertrieben und nicht vollends ernst gemeint, präsentieren wir euch nun den vierten fiktiven Festivalbericht zum legendären Nova Rock 2020! (Reihenfolge und Spieltage der Bands evtl inkorrekt)

 

Tag 4 – Samstag

Zum Henker, jetzt geht diese verdammte gleißende Scheibe schon wieder auf! Ich bin nicht bereit dafür! Ich flechte mich umständlich und unter Schmerzen vom Rücksitz meines Kleinwagens und starte das Auto, um einerseits die Temperatur konstant zu halten, andererseits das komplett entleerte Handy zu laden. Ich klemme meine nassen Klamotten von Gestern in die Autofenster und versuche noch ein wenig Schlaf zu ergattern. Wie immer sinnlos. Eine der Blasen auf meinen Armen ist aufgegangen und nässt unter höllischem Brennen. Jetzt ist meine Sonnencreme, die noch immer nicht aus den Tiefen meines recht begrenzten Platzangebotes im Auto wieder aufgetaucht ist, auch schon sinnlos.

Ich starre schmerzgepeinigt an die Decke meines Autos. Was soll ich tun? Waschen? Essen? Einfach da itzen und mir selbst leid tun? Ich entscheide mich für Essen, während ich darauf warte, dass das Handy vollständig geladen ist. Heute wäre der finale Tag mit dem höchsten Metal-Angebot, der Tag, wegen dem ich mir diesen ganzen abartigen Scheiß eigentlich antue. Das will ich mir jetzt auch noch ansehen, sterben kann ich ja später. Ich bin gerade bei der zweiten Dose Ravioli, die längst nicht mehr so gut schmeckt wie am ersten Festivaltag, als ich meinen Denkfehler bemerke. Ohne unterwegs Essen, muss ich den Weg wieder mit diesem behinderten Maulkorb zurücklegen. Naja, ist jetzt auch schon scheißegal.

Ich exe eine Flasche Mineral, pinkle elegant aus dem Auto (nicht in Richtung der Angeberkarosse, deren Insassen mir gestern das Leben gerettet haben) und suche mir nicht-stinkende, unverschmutzte Sachen, die mich zumindest aussehen lassen, als hätte ich mein Festivalleben noch unter Kontrolle. Dann ist auch mein Handy fertig geladen und ich schlurfe voll ausgestattet los – die schon etwas ranzige, uralte Decke, die meinen Kofferraum normalerweise vor allzu schlimmer Verschmutzung schützt, wurde mittels Loch in der Mitte zu einem improvisierten Poncho, der mich vor der Sonne schützen soll. Mit dem scheußichen, bunt karierten Teil sehe ich aus wie ein poastapokalyptischer Mexikaner aus einem Low Budget Trashfilmchen, aber das ist mir egal.

Meine App geleitet mich sicher zum Eingang, den ich heute tatsächlich beinahe auf allen Vieren erreiche, dank des dickflüssig-zähen Untergrunds, der in Blöcken an meinen Schuhsohlen klebt. Glücklicherweise spüre ich meine Füße schon seit gestern nicht mehr, nur deswegen kann ich noch gehen. Und ich bin tatsächlich rechtzeitig am Geländeeingang, dessen Schlange noch einigermaßen übersichtlich aussieht, als SHVPES rund um Dickinson-Söhnchen Griffin loslegen. Für mich heißt es aber mal wieder Fieber messen, Ticket checken, Ausweis checken, App checken, Taschenkontrolle vom Marsmännchen – halt, das Marsmännchen heute ohne Seuchenschutzanzug, nur mit Vollvisirhelm. Entweder sind denen die Ganzkörperkondome ausgegangen, oder die Checkpoint-Mitarbeiter haben das Teil in der heute wieder unfassbar sengenden Sonne einfach verweigert. Man grinst ob meines unkonventionellen Umhangs, aber lässt mich passieren.

Die heimischen Classic Rocker von THE WEIGHT fallen, genau wie JJ WILDE, die mir erstmal genau gar nichts sagen, meiner üblichen Bier-Bunkerei zum Opfer. Zumindest THE WEIGHT, die für ihre authentische, mitreißende Performance schon so viel gelobt wurden, hätte ich gerne gesehen, doch dank diesem ganzen wahnhaften Kontrollscheiß... eh schon wissen.

Als ich nach der üblichen Filzerei mit zwei Bierkübeln schmerzerfüllt, doch einigermaßen glücklich das Gelände entere und im Besucherschach sogar auf Anhieb einen Platz mit Fast-Bühnen-Sicht ergattere, bin ich zuerst einmal verwirrt. Denn irgendetwas spielt da gerade. Ich checke meine App und stelle fest – das sind GLORYHAMMER, die da gerade ihren überdrehten Melodic Powermetal in die sichtlich gut gelaunte Menge (wie bitte kann man nach so einem Höllenfestival jetzt noch gut drauf sein?!) ballern. Ich bin auf der falschen Bühne! Verflucht! Ich wollte doch zu AUGUST BURNS RED, um mir einen anständigen Scheitel ziehen zu lassen!

Ich bin zu fertig, um mich überhaupt noch darüber zu ärgern. Also sehe ich mir eben die schottische Kostümparty an – und irgendwie schafft es dieses quietschbunte, komplett überdrehte, penetrant gute Laune versprühende Spektakel, mir trotz der frustrierenden Tage die hinter mir liegen, ein Grinsen ins Gesicht zu tackern. Diese Truppe muss ich mir merken – über diesen Discosong müssen wir zwar dringend noch einmal reden, aber ansonsten ist mein metallischer Start in den Tag dann doch mehr als versöhnlich.

Ich improvisiere mir aus einem der Bierkübel einen Hocker, schwitze und döse unter meiner Decke vor mich hin und bekomme nicht wirklich etwas rund um mich mit, bis JINJER mit einem Knall loslegen und mich Fronterin Tatiana von meinem kleinen Handybildschirm aus gehässig anblökt. Genau das was ich jetzt brauche, erotisches Gebell einer Powerfrau, die nicht wie ein rüschenbesetzter Kleiderständer auf der Bühne herumwankt – der Kameraschwenk über das heute wieder wohlsortierte Gelände, dem in einer Nachtschicht neue Babyelefanten-Quadrate auf den weichen Schlamm gemalt wurden, zeigt, dass es die meisten Zuschauer ähnlich sehen.

Dass ich aus Versehen zunächst auf der falschen Bühne gelandet bin, hat den angenehmen Nebeneffekt, dass ich das Geflöte und Gefiedel der Schweizer Folk-Formation ELUVEITIE nicht anhören muss und direkt zu HEAVEN SHALL BURN übergehen kann, die mit gewaltiger Aggro-Energie die Bühne in Schutt und Asche legen. Jetzt ein Moshpit verdammt! Ich bekomme zu den blechern hämmernden Klängen aus meinem Handy Lust, irgendetwas durch die Gegend zu schubsen und amtlich zu eskalieren. Dann fällt mir ein: in meinem derzeitigen Zustand ist das keine gute Idee. Ich überlasse also die Eskalation den Profis auf der Bühne und mime in meinem Schachbrettfeld den braven, angepassten Besucher, während es in mir brodelt und kocht – die tief stehende Sonne hat mich bald durchgegart.

Ich beschließe, zum Abschluss meines Festivals, den Hauptbühnen den Rücken zu kehren, da mich weder AIRBOURNE, BAD RELIGION, THE OFFSPRING oder BILLY TALENT mehr sonderlich reizen. Und über den Headliner verlieren wir gar keine Worte, was dieser am Metal-affinen Samstag zu suchen hat, ist mir wirklich schleierhaft.

Während sich das Gros der Festivalbesucher Mühe gibt, die beiden Hauptbühnen an den Rand der Kapazitäten zu bringen, trotte ich in Richtung kleiner Bühne mit dem Bullenlogo. Dort reißen gerade die sympathischen oberösterreichischen Hardcoreler DAZE AFFECT die Bühne ein – natürlich nur im übertragenen Sinne, aber ich sehe, als ich das vergleichsweise kleine Gelände nach dem üblichen Gesundheitscheck betrete, zum ersten Mal Menschen die zu den hämmernden Hardcoreklängen richtig abschädeln. Zwar alle fein säuberlich in ihre Quadrate sortiert, doch immerhin! Ich würde ja auch gerne, doch... lassen wir das. Ich genieße im Sonnenuntergang den warmen Rest meines Bieres.

Zum ersten Mal auf dem Festival unterhalte ich mich über die Grenzen der Babyelefanten-Quadrate hinweg ganz normal mit anderen Besuchern. Die meisten haben ähnliche Höllentrips hinter sich wie ich – einer hat sein Handy verloren und musste auf dem Festival ein überteuertes Neugerät kaufen, um nicht in sofortige Sicherheitsquarantäne zu müssen, ein anderer hat seine Freundin an die Quarantäne verloren und sich ob des Seuchenschutz-Auftriebs nicht getraut, ihr ihre Sachen nachzubringen. Wir scheißen auf die Corona-Regeln und teilen uns als Leidensgenossen den Bierkübel des Vierten im Bunde, der seit drei Tagen mit einer gebrochenen Zehe durch die Gegend humpelt.

Jeder in seinem Quadrat, und doch nahe zusammengerückt, ziehen wir uns als Absacker des Festivals noch die heimischen Metalcore-Heroen KILL THE LYCAN rein, die eine kesse Sohle aufs Parkett legen und mit fein zwischen Melancholie und Arschtritt austarierten Klängen locken.  Das hat schon ziemlich Schub was die Burschen da aufbieten – kaum zu glauben, dass die in der heimischen Szene sattsam bekannte Gruppe nach langer Bühnenabstinenz im Vorjahr erst ihr Debüt auf die Menschheit losgelassen hatte.

Als auch das Gelände der kleinen Bühne schließlich geräumt wird und sich unsere kleine Schicksalsgemeinschaft auflösen muss, bereue ich es die kleine Bühne nicht schon früher aufgesucht zu haben und die drei nicht früher schon getroffen zu haben. Doch so habe ich wenigstens noch einen tröstenden Abschluss des Festivals bekommen, der mich die nässenden Blasen auf meinen Armen und inzwischen wohl auch den Beinen vergessen lässt. Wie es um meine Füße steht weiß ich nicht, denn die spüre ich ohnehin schon länger nicht mehr. Einigermaßen versöhnt mache ich mich auf den strapaziösen Gewaltmarsch zurück zu meinem Auto.

Die Wartezeit an den Dixis war zum Abschluss noch einmal die Hölle. Ich feiere die Ankunft in der trotz fortwährender Desinfektion übel stinkenden Plastikbox mit einer Explosion, die die Menschen davor wohl in Deckung gehen lässt. Die Festivaldiät aus Bier und Ravioli in rauen Mengen hat meinen Körper in einen Reaktor für biochemische Kampfstoffe verwandelt, der sich in einem weitreichenden Sprühregen entlädt. Mit grimmiger Zufriedenheit verlasse ich nach getanem Werk das Mobilklo und freue mich auf das Gesicht des zur Desinfektion eingeteilten Dixiprinzen.

Als ich hundemüde bei meinem Auto ankomme, reiße ich mir als erstes die durchgeschwitzte, stinkende Maske vom Gesicht, werfe sie auf den Boden und trete demonstrativ darauf. Leider fehlt mir durch den kürzlichen Besuch der Mobilkloeinheiten das Material, um meiner generellen Einstellung diesem Ding gegenüber noch bildlicheren Ausdruck zu verleihen. Vielleicht ist es auch besser so.

Ich beschließe das Festival mit einer weiteren Mineralwasserflasche auf Ex und der vorletzten Dose Ravioli, die ich postwendend am liebsten wieder auskotzen möchte. Es wird echt Zeit, dass ich wieder nach Hause komme. Ich versuche mich so gut es geht ein letztes Mal auf der Rückbank meines Autos einzurichten, doch jeglicher Kontakt meiner Haut mit dem Untergrund sendet scharfe Schmerzpfeile durch meinen gesamten Körper.

Irgendwann reißt mir der Geduldsfaden und ich nehme am Fahrersitz platz und starte das Auto. Der Tank ist fast leer. Egal, wenn ich gleich fahre, werde ich schon irgendwo eine Tankstelle finden. Entnervt und schmerzgeplagt kurve ich im Slalom zwischen den endlosen Reihen geparkter Autos durch den noch immer matschigen Acker, bleibe dabei dreimal Hängen, klaue mir aus dem offen herumstehenden Reservekanister eines anderen Besuchers den Sprit und strebe unter den kalten Lichtern der Flutlichtmasten der Ausfahrt entgegen. Ich will nur mehr weg von hier.
 

Die Nachwehen:

Überraschenderweise ist die Heimfahrt frei von Katastrophen. Dank geklauten Sprits (das schlechte Gewissen wurde vom durchgemachten Höllentrip gnädigerweise überblendet) habe ich es rechtzeitig zur Tankstelle geschafft, und die mehrstündige Heimfahrt war nach den Strapazen der vier Festivaltage fast ein Klacks. Ich musste ja nur mehr sitzen. Als ich mit rotgeränderten Augen zurück in meine Wohnung krieche, stürze ich als erstes ein frisches Bier aus dem Kühlschrank hinunter, dann sinke ich ohne mich umzuziehen oder gar zu duschen in meinen Fernsehsessel und schlafe auf der Stelle ein. Endlich.

Das Bimmeln meines Handys reißt mich jäh aus dem Schlaf. Ich schrecke hoch – und sehe mich verwirrt in meinem Wohnzimmer um. Ich bin schweißgebadet. Mein Fernseher zeigt das Standbild des pausierten Nova Rock Streams, der dieses Jahr anstatt des konventionellen Festivals die konzertlose Zeit überbrücken soll. War das alles nur ein Alptraum?

Zitternd wische ich mir den Schweiß von der Stirn, als mein Blick auf meine Arme fällt. Langsam arbeitet sich der Schmerz der großen, nässenden Brandblasen darauf zurück in meine Wirklichkeit. Ich blicke hinunter auf meine schmutzstarrenden, geschwollenen Füße. Mein Handy bimmelt erneut. Ich ziehe es verwirrt aus der Tasche und starre auf den Bildschirm. Meine Nova-App vermeldet, dass ich in den vergangenen Tagen mehrmals Kontakt zu positiv auf Covid-19 getesteten Personen hatte und nun zwei Wochen in häuslicher Quarantäne verbringen muss.

Moment mal – WAS?!


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