27.02.2018, Knust, Hamburg

Party in der Sackgasse mit CALLEJON in Hamburg

Text: Jazz Styx
Veröffentlicht am 02.03.2018

Ende Februar liegt Hamburg im Tiefstwinterkoma. Eis und Schnee beherrschen die Straßen rund um das Knust, eine Auftrittslocation mittlerer Größe. Sein Aufbau ähnelt dem einer Straßenschlucht – mehr noch dem Bild einer dieser typischen Sackgassen, in denen zwielichtige Gestalten ihre Delinquenz an wehrlosen Passanten verüben.

Knuddel-Gangstas

IMPROVEMENT sind die erste Gang, die heute den langen, schmalen, hohen Raum unter ihre Kontrolle bringen wird. Zumindest optisch sind die Schweizer absolut Straße. Frontmann Sebastian vermittelt den Eindruck des harten Typs mit Herz – ein Gangsta zum Knuddeln. Seine Stimme bekommt in den Shouts live noch eine Portion mehr Härte als in den Studioaufnahmen. Metalcore der leicht angehardcoreten Art projiziiert dreckige Bilder von Graffiti und Ghetto in die durchgeschüttelten Passantenköpfe. Wieselhaft nähert sich eine listige Gestalt und zeigt ungefragt, was sie unter ihrem Mantel verbirgt. Du willst dich abwenden, aber es ist das sehr attraktive und brandaktuelle Album „Farewell“, das sie dir anbietet. Du lauscht noch für einen Moment dem überdurchschnittlich tiefen Klängen, weichst einer kleinen Wall of Death aus und schlägst zu: IMPROVEMENT!

„Annie, are you ok?“​

Die Straßen werden größer und etwas offener. Noch immer befindest du dich in einem runtergerockten, nun aber angenehmeren Viertel, in dem die Spuren der Gentrifizierung nur spärlich zu bemerken sind. Die Atmosphäre ist weiter, etwas weniger bedrohlich, ein Hauch von Trostlosigkeit liegt in der Luft. ANNISOKAY besprenkeln ihren Metalcore mit Alternative Metal, vorwiegend aber mit Post-Hardcore. Das lange Haar von Frontriese Dave Grunewald fliegt über die stehengebliebenen Passanten. In dieser Straße gibt es ein paar kleine Läden hinter verstaubten Fenstern und mit vernachlässigter Ordnung in den alten Regalen. Ein Kiosk verkauft Bier, Schnaps in kleinen Flaschen und blasse Träume von besseren Welten. ANNISOKAY haben zuletzt 2016 schwungvoll ihr Album „Devil May Care“ in die Gassen geworfen. Auch live bringen sie einiges an Energie mit, wenn auch irgendwie der Funke fehlt, der die Passanten in der hiesigen Häuserschlucht entzünden könnte. Geschuldet ist dies jedoch wohl weniger der Qualität der Musik von ANNISOKAY als der einfachen Tatsache, dass man hier gespannt auf CALLEJON wartet.

„Willkommen in der Sackgasse!“​

Worauf alle warten, ist keine Autobahn, sondern eine kleine enge Gasse, eine Sackgasse: CALLEJON! „Willkommen in der Sackgasse! Willkommen in der Realität! Willkommen in deinem Leben! Und der Freiheit nein zu sagen!“ Neuerdings eine Spur softer unterwegs sind die Düsseldorfer aber schon seit vielen Jahren bekannt dafür, ohne Kompromisse zu tun, was ihnen gefällt. Somit entsprechen sie mal der düsteren Nische zwischen vernachlässigten Backsteinbauten mit ihren alten Zombiecore-Songs wie „Snake Mountain“ und „Zombified“. Oder sie bilden einen Sound-Boulevard krassen deutschen Metalcores mit starken Nummern wie „Sommer, Liebe, Kokain“, „Videodrom“, „Blitzkreuz“ und „Wir sind Angst“. Dann wieder wandeln sie auf fremden Pfaden, die sie aus politischen Gründen zu ihren eigenen gemacht haben: „Schwule Mädchen“ und „Schrei nach Liebe“ – letzterem folgen ausgiebige Rufe der Passanten: „Ganz Hamburg hasst die AfD!“
Natürlich haben CALLEJON auch reichlich Material von der neuen Platte „Fandigo“ mitgebracht, das wie die Gänge einer Cyberpunk-Metropole in Schwarz und Neonfarben wirkt. Songs wie „Fandigo Umami“, „Utopia“, „Monroe“ und „Das gelebte Nichts“ bieten ganz neue Facetten im Straßengeflecht der sich wieder und wieder neu erfindenden Musiker. In einer dieser Gassen riecht es nach Pisse, Erbrochenem und Sperma, denn CALLEJON machen auch versifft-asozialen Ekel-Hip-Hop in ihren „Porn from Spain“-Songs. Denen gegenüber stehen die wunderschönen Ausblicke, die emotionalen Höhepunkte, die tränenstarken Sternstunden, die sie mit dem ergreifenden „Unter Tage“ erzeugen und die sie im erschütternden Chor aller Anwesenden mit dem überragenden „Kind im Nebel“ herausschreien. Ihnen wird sich langfristig wahrscheinlich auch das gefühlvolle neue „Hölle Stufe 4“ anschließen – oder vielleicht auch die Festivalhymne „Noch einmal“, ebenfalls vom Album „Fandigo“.
CALLEJON machen so unterschiedliche und doch sehr gut in ein Konzert passende Musik, dass emotionales Chaos quasi vorprogrammiert ist. Hass und Wut, ungehemmte Lust, Zusammenhalt, erschütternder Ekel, Freude, Angst, bittere Trauer und zerreißende Verzweiflung. Danke für alles davon – auch heute wieder! Besonderen Dank aber auch an die junge Frau, die von einer erhöhten Position aus gegen Ende des Konzerts die emotionaleren Passagen in einer so frenetisch-ekstatischen Intensität mitgegröl-scream-shout-growl-schrien hat, das ich sie einen Moment für das Übertönen der Musikanlage hassen wollte, bevor ich sie einfach nur noch feiern konnte für so viel ungehemmte Leidenschaft. Einfach nur schön! Aber bitte nächstes Mal wieder an einem größeren Veranstaltungsort.


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