23.-25.06.2017, Hurricane Festival Area, Scheeßel

Hurricane 2017

Text: Jazz Styx
Veröffentlicht am 28.06.2017

Hallo, mein Name ist Jazz und eigentlich höre ich gerne Metal. Trotzdem berichte ich vom Hurricane-Festival. Ob sich hier zwischen Indie-Rock, Hip-Hop, Elektro und Pop auch Klänge verirrt haben, zu denen man seine wallende Metal-Mähne schütteln, die Pommesgabel gen Nachthimmel recken und die Wall of Death zelebrieren kann, erfahrt ihr genau hier.

Die Anreise am Donnerstag gestaltet sich weit aufregender als erhofft. Walnussgroße Hagelkörner und kleine bis mittlere Äste prasseln auf die Windschutzscheibe, während ich mit kaum mehr als 30 km/h auf der Landstraße halben Bäumen ausweiche, die auf die Straße gestürzt sind. Offensichtlich bin ich auf dem richtigen Weg zum Hurricane, das mit seiner stürmischen Geschichte fast schon Unwettertradition hat (siehe Hurricane 2016). 

Gemütliche Getränke und entspannte Gespräche mit interessanten Menschen, die man sonst niemals kennengelernt hätte, säumen den Weg in die Nacht, die zum Glück bessere Wetterverhältnisse bereithält als der Tag. Nur der kurze Versuch, sich dem Bühnenprogramm am Vorabend des offiziellen Festivals zu nähern, wurde dank JOMOs mäßigem Ärzte-Cover im Keim erstickt. Das schüchterne Metaller-Männchen nähert sich der Mainstream-Musik an, verharrt jedoch noch in sicherem Abstand und macht einen Rückzieher.

 

(c) Dr. Jules May


Des Freitags erste Reise ins Land der vermeintlich radiofähigen Laute lässt mich ERIC COHEN tangieren – andererseits tangiert seine Musik mich weniger. Ziel sind jedoch HO99O9 – zwei Rapper und ein Drummer, bei denen man sich reichlich windschief in den Bass lehnen kann. Mancher Metal mag geradezu weich und harmlos erscheinen, wenn man ihn mit diesem experimentellen Hip-Hop vergleicht, der sich mit Punkrock, Horrorcore und Industrial-Elementen zu einem erstklassigen, sehr skurrilen Act zusammenfügt. So steigt hier schon am Nachmittag eine HO99O9-Party, auf die es wert war, nach ihrem Ausfall 2016 ein weiteres Jahr zu warten.

Nach Bass-induzierter Gänsehaut und schwungvollen Walls of Death geht es zu DANKO JONES, der ein gegenteiliges Programm fährt. Waren es eben noch wenige hundert Festivalgäste, die zu starker, individueller Musik ausgeflippt sind, ist die Stimmung der Tausenden bei DANKO JONES, der unkompliziert, eingängig und übertrieben cool seinen Hard Rock dahersingt, bestenfalls knapp oberhalb von verhalten zu verorten. Vielleicht würde es helfen, wenn er nicht noch um Längen affektierter agieren würde als Dwayne „The Rock“ Johnson zu alten WWF-Zeiten. Wer darüber hinwegsehen kann, ist mit seiner neuen Scheibe „Wild Cat“ wahrscheinlich gut bedient.

Auf dem Weg zum heißersehnten Grill zetern noch SXTN von der Bühne herüber: aufgebracht, stark an TIC TAC TOE erinnernd und im sechzehnten Monat Bass-überschwanger.

Gestärkt durch ein Gedicht von einem auf den Punkt Kohle-erhitzten Entrecote geht es an BOY vorbei, die ruhig, zurückhaltend und ein wenig nichtig Laute produzieren, die im Sieb zwischen den Ohren nicht hängenbleiben.

Dann machen FLOGGING MOLLY, was Irish-Folk-Rocker halt so machen: Irish Folk Rock spielen – äußerst solide und unterhaltsam. Mit Songs wie „Drunken Lullabies“, „Devil's Dance Floor“ und „If I Ever Leave This World Alive“ zeigen sie, warum sie zur absoluten Spitze der grüninseligen Gute-Laune-Musik gehören. Un-untanzbar!

Eine ordentliche Dosis in Metall gefassten Flüssiggetreides später nehme ich noch einen Moment ANTILOPEN GANG mit, die gerade ihr wohl bisher publikumsreichstes Konzert mit Liedern wie „Enkeltrick“ und „Verliebt“ ausklingen lassen. Ihr starker, intelligenter Pop-Hip-Hop ist gelegentlich mit Punk angereichert und macht ziemlich Spaß.

Im Vorbeigehen kann man die gefühlvolle Ballade „Ich muss immer an dich denken“ von SDP herüberwehen hören, bevor der Megaheadliner GREEN DAY sein Zweieinhalb-Stunden-Programm startet – leider mit leichter Inkompetenz beim mitgebrachten Tontechniker. Aber auch losgelöst vom schwachen Sound geht es einem als Metaller bei GREEN DAY so, als würde man heutzutage mit einem 12-Zoll-Schwazweiß-Röhrenmonitor fernsehen. Klar, kann man machen, kommt einem dann aber doch schon ein bisschen unspektakulär vor. Die unangenehm lauten Pyros ohne optischen Effekt – also einfach ein lautes Knallen – sind insbesondere in Zeiten der zunehmenden Angst vor Terror auch keine Glanzleistung.

 

(c) Robin Schmiedebach

 

Die Flucht zu CLUESO bringt leider auch nicht viel. Sein Singsang-Hip-Pop-Dudel-Rock ist so langweilig, dass ich es für angebracht halte, hier keinen humorvollen Vergleich anzustellen. Vielleicht verschafft ja ALLE FARBEN das erhoffte positive Musikerlebnis. Der sehr kindlich wirkende DJ drückt den Play-Button und unkomplizierter Feel-Good-Elektro beschallt das Zelt. Tatsächlich bietet hier der einzige Musiker, der ohne Instrumente (im engeren Sinn) auf der Bühne steht, die gegenwärtig sympathischste Unterhaltung. Gerade „Bad Ideas“ und „She Moves“ lösen reichlich Jubel aus.

Im Vorbeigehen nehme ich dann noch irgendeinen 90er-Jahre-Song von GREEN DAY mit, der wenigstens leichtes nostalgisches Wohlwollen auslöst, bevor CLUESO von der Seite erklärt, dass er und andere dabei sind, sich zu verlieren – romantisch, hübsch, belanglos. Bevor mich das Camp, das Bier und das Bett wiederhaben, gibt es noch eine Portion DIE ORSONS aufs Ohr: „Ven-ti-la-tor. Ven-ven-tila-tila-tor.“ Die elektronischen Töne und der wortarme Refrain machen richtig Laune, der Strophen-Hip-Hop allerdings weniger.

 

(c) Dr. Jules May


Von drauß' vom Campground komm ich her. Ich muss euch sagen, es samstagt sehr! RED FANG sind es, die meinen Indie-Rock-Pop-Elektro-Hip-Schlonz-gequälten Ohren mit ihrem smoothen Stoner Rock beinahe-metallische Erleichterung anbieten. Nur wenige Festivalgänger haben sich an diesem ungemütlich-verregneten Nachmittag hierher verirrt – schade für Band und Publikum. Was man verpasst hat, kann man in Ansätzen mit der aktuellen Platte „Only Ghosts“ nachholen.

PASSENGER ist nur für einen Song bekannt: „Let Her Go“ – nicht „Let It Go“, meine lieben Frozen-Fans! Der britische Singer-Songwriter ist die personifizierte Friedlichkeit. Gemütlich klingen seine Laute über die Wiesen und als er einmal das Wort „shit“ benutzt, fühlt er sich verpflichtet, sich dafür zu entschuldigen. Eine wunderschöne Stimme für prädestinierte Hintergrundmusik – außer für Pärchen, die gehen darin voll auf. Soooo schön! Hier nun bitte ein Kotz-Emoji vorstellen!

 

(c) Malte Schmidt

 

Von irgendwo dringt auch ein wenig MONTREAL'scher Punkrock an mein Ohr. Ja. Hm. Na ja. Hm. Mir egal!

Dass die Dose – insbesondere mit flüssiger oder fester Nahrung darin – eine der wundervollsten Erfindungen der Menschheit ist, beweist auch dieser entspannte Festivalnachmittag auf dem Campground, den ich für den Indie Rock von MAXIMO PARK beende. Maximal Quark – minimales Interesse!

Nach der mäßiger und, wenn doch vorhanden, dann nostalgisch motivierter Zustimmung gibt es endlich wieder richtig gute Laune bei IRIE RÉVOLTÉS. Die Freude des Ska, die Energie des politischen Punks, die Laune von Party-Hip-Hop, die Gemütlichkeit von Raggae und von ganz vorne bei der Bühne bis gefühlt zum Horizont tanzen alle – alle! Dass eine so unendlich stimmungsvolle Band, die in der Lage ist, geradezu Tanzzwang auszulösen, aufhört, während so mancher Headliner den Absprung vor Jahren nicht geschafft hat, ist unverständlich und schade.

Wenn wir schon beim Thema sind: LINKIN PARK. Die ohnehin mittelmäßige Akustik wird noch weiter gestört, weil der Sänger Chester Bennington die Menge die wichtigsten Passagen alleine singen lässt. Müdes Schulterzucken, denn „in the end it doesn't even matter“.

Dieser Festivaltag endet mit der Erkenntnis meinerseits, dass man manchmal auch bei den Zeltnachbarn die besten musikalischen Neuentdeckungen eines Festivals machen kann. Für mich sind das FAHNENFLUCHT mit ihrem energischen politischen Punkrock.

 

(c) Christoph Eisenmenger


Der Nachmittag des Sonntags steht ganz im Zeichen von DIE KASSIERER: Nullniveau und Suff. Um ihrem Stil gerecht zu werden, mache ich mir für diesen Absatz keine Arbeit und gebe nur zusammenhanglose Zitate von mir: „Ich trinke darauf, dass sich mein Gehirnvolumen auf das dreifache vergrößern mag!“, „Blumenkohl am Pillermann!“, „Wer von der Quantentheorie nicht schockiert ist, der hat sie nicht verstanden!“, „Mach deine Titten frei, denn ich will wichsen!“, „Mach deinen Pimmel frei, denn ich will lutschen!“, „Armut, Dummheit, Ruhrgebiet!“, „Hast du schon mal so'nen schönen Hodensack geseh'n?“, „Mein Glied ist zu groß!“ Außerdem habe ich gehört, dass die Situation ausgegangenen Bieres maximal negativ zu werten sei. Prost!

Reichlich Dosen sorgen für einen Mangel an Hunger und einen Überfluss an doppelt gesehener Umwelt. Dann spielen OF MICE & MEN und wirken live trotz eigentlich fast pop-punkigen Metalcores ziemlich heftig. Trotz des norddeutschen Grillwetters (16°C und Regen) ist die Stimmung stark, sodass der riesige Circle-Pit sogar metallene Heimatgefühle emporquellen lässt. Gebrüll bleibt einfach der bessere Gesang!

Ein Hauch von ALT-J weht über den Platz, als ich mich mit großen Erwartungen zur Bühne begebe, auf der ganz bald DIE ANTWOORD spielen wird. Ein DJ mit stark entstellender Maske und die beiden Sprechgesangperformer Yolandi und Ninja, selbst weit weg von Otto-Normal-Schönheitsidealen und gerade deswegen wunderschön anzusehen. Die Musik ist sehr energischer, äußerst tanzbarer Club-Elektro-Stuff mit allerlei Anleihen aus allen Ecken und Richtungen mit sehr einzigartigem Hip-Hop dazu. Es ist ekstatisch-übernormal-großartig – ein einziger getanzter Rausch! Es tut mir leid, aber hiermit verabschiede ich mich vom Stormbringer! DIE ANTWOORD sind so gut, dagegen kommt Metal nicht an! Außerdem ist mir der Stormbringer nach dieser Show einfach zu normal! OK, OK, „I love my ugly boy[s]“ und „I fink you freaky and I like you a lot“! Also gebe ich dem Stormbringer und dem Metal noch eine Chance.

CALLEJON müssen es also richten! Ausgerechnet dieser ungewöhnliche Nischen-Metalcore. Das kann ja heiter werden! Auf Deutsch! Mit intelligenten Texten und exzellent getroffenen Emotionen. Mit dem überragenden „Kind im Nebel“, dem Lieblingssong von Sänger BastiBasti und mir. Mit „Krankheit Mensch“ und gestampfter Misanthropie im Schlamm. Mit vielen Vorfreude weckenden Songs vom kommenden Album „Fandigo“. Mit dem ausrastenden und strukturell nihilistischen Frühwerk „Snake Mountain“. Mit dem gecoverten „Schrei nach Liebe“ gegen Rechts und „Schwule Mädchen“ gegen Intoleranz und Sexismus. Mit „Ich suche nicht die Dunkelheit, das Dunkel sucht mich“. Mit so viel Energie. Mit so viel Gefühl. Mit zerschrienen Stimmbändern. Mit verwientem Gesicht. Mit zermoschtem Nacken. Das „Dunkelherz“ zerrissen. Ein momentgewordenes Stück vom Glück. Eine Sternstunde! Das perfekte Ende für ein gelungenes bis starkes Festival. Das perfekte Ende für einen der besten aller je gewesenen Festivaltage. Danke CALLEJON! Danke Hurricane!


ps.: „Wer Konzertberichte nüchtern schreibt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren!“ (Carlsberg Lager-Veltins)


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