Interview: Overkill - Bobby "Blitz" Ellsworth

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Mein verdammter Job ist es, dich und deine Band hier und heute zu begraben! - Bobby Blitz Ellsworth sieht OVERKILL durch junge Thrash-Bands nicht gefährdet.

Die New-Yorker-Thrash-Legenden OVERKILL nach gut zehn langen Jahren wieder mal in der Bundeshauptstadt - keine Frage, dass wir dafür selbst an einem Sonntag die Schnitzel-Plautze in Gang setzten, um den "Nicest Guy In Metal", Bobby "Blitz" Ellsworth, zum Talk zu bitten. Dieses Mal zu einem speziellen Thema - dem für OVERKILL als auch für die gesamte Thrash-Metal-Szene so wichtigen Jahr 1985, in dem alles richtig Fahrt aufnahm. Dass das Gespräch schlussendlich bis zur Chocolaterie ausartete, war unerwartet, aber willkommen.

Veröffentlicht am 12.03.2015

Ein Gespräch mit OVERKILL-Frontmann Bobby "Blitz" Ellsworth zu führen ist alles, aber niemals langweilig. Das hat mir schon Redaktions-Doyen Reini eingebläut, der den furchengesichtigen Schreihals aus New York bereits vier Mal vor sich oder an der Strippe hatte. An einem sonnigen März-Sonntag in der Wiener Szene zeigte sich Bobby bei der fünften Show der "Killfest"-Tour mit SANCTUARY, METHEDRAS und SUBORNED im Vorfeld auch dementsprechend entspannt und relaxt. Seine Liebe zur Kommunikation und den Menschen im Allgemeinen sind angenehm in einer Branche, in der sich Pseudo-Misanthropen mit stinklangweiligen und erzwungen rausgepressten PR-Floskeln über die Minuten hangeln. Sein Sinn ist scharf, die Aufmerksamkeit fokussiert, das raue, von jahrelangem Zigarettenkonsum markante Lachen herzhaft. Ein echtes Original, das zudem keiner Frage ausweicht und selber irrsinnigen Spaß an der Unterhaltung hat. Vorhang auf für "Blitz":

Bobby, ich will mit dir heute gerne ein Themengespräch über das legendäre Jahr 1985 führen, in dem der Thrash Metal explodierte. Eben vor genau 30 Jahren erschein auch euer Debütalbum „Feel The Fire“. Was kommt dir in den Sinn, wenn du daran zurückdenkst?

Das Jahr war für mich sehr chaotisch, aber auch sehr aufregend. Es gab einfach keine Regeln und es schien so als ob jeden Tag etwas Neues, Aufregendes passieren würde. Es gab zum Beispiel legendäre Demos wie das erste von LEGACY, die später zu TESTAMENT wurden oder „Metal Up Your Ass“ von XECUTIONER, später OBITUARY. Keiner wusste so wirklich, was er tut, aber jeder hat es genossen. Es ging einfach darum kreativ zu sein und was dienstags Gesetz war, war freitags schon wieder egal.

Damals warst du 25 Jahre alt.

Auf dem Sprung zum 26. Geburtstag. Ich war ja ein bisschen ein Spätstarter, denn die meisten hatten schon als Teenager begonnen. Ich stand schon immer auf Punk Rock, Heavy Metal und die NWoBHM, aber ich habe niemals zu singen begonnen, weil ich damals zur Uni ging. Ich war damals schon auch in Bands, habe mal einen Song gesungen oder auf einer Nummer Bass gespielt. Es war aber eher Punk Rock und der Metal kam dann später. Da war mir auch klar, dass meine Stimme am besten dorthin passen würde.

Zwei Jahre vor „Feel The Fire“ haben dich die Jungs aber aus OVERKILL rausgeschmissen.

Ja, für etwa vier oder fünf Monate. Ich würde sagen, ich hatte damals den „Appetite For Destruction“ (lacht). Ich war aber immer schon ein sehr kommunikativer Kerl, der sich gerne mit Menschen unterhielt. Damals als Kind dachte ich aber wohl, ich hätte die Lizenz ein verdammtes Arschloch zu sein (lacht). Es kam dann der Zeitpunkt, wo wir einen Plattenvertrag mit Megaforce Records bekamen und ich entscheiden musste, ob ich die Sache mit OVERKILL durchziehe, oder weiter zur Uni gehen würde. Ich habe mich für den Plattenvertrag entschieden und mein Vater fragte mich dann: „Bist du dir sicher, dass es hier nicht nur um Frauen und Freibier geht?“ Ich sagte natürlich, dass es mir ausschließlich um die Kunst ginge. Etwa 20 Jahre später, es war der 75. Geburtstag meines Vaters, habe ich ihm Freikarten für ein großes Sportevent besorgt, die mir ein berühmter Sportler zur Verfügung stellte, der wiederum großer OVERKILL-Fan ist. Ich habe etwa 15 Tickets bekommen und meine gesamte Familie war da, mein Vater war begeistert. Er sagte zu mir: „Junge, ich habe immer gewusst, dass dieses OVERKILL-Ding irgendwann funktionieren wird“. Ich antwortete ihm: „Dad, ich habe dich angelogen. Mir ging es damals nur um Frauen und Freibier“ (bekommt einen gefährlich wirkenden Lachanfall).

Welchen Rat würdest du deinem 25-jährigen Selbst heute geben?

Sei ein bisschen geduldiger in allen Dingen die du machst, Bobby (lacht). Es ist interessant, wie stark wir immer mit dieser Band verwurzelt waren. Selbst in den 90er-Jahren, wo eigentlich die ganze Szene den Bach runterging, haben D.D. und ich niemals ans Aufhören gedacht. Wir haben nur überlegt, wie wir uns unabhängiger machen können. Von 1995 bis 2005 war ich brutalst nüchtern. Ich habe nicht einmal einen Nipper von Irgendwas genommen, einfach weil es nötig war, um die Band am Laufen zu halten und in schlechten Zeiten gute Entscheidungen zu treffen. Der wichtigste Ratschlag wäre also: „Du bist nicht immer an der Spitze und die harten Zeiten treffen dich irgendwann unbarmherzig. Bleib also am Boden und überleg genau, was du tust.“

Du bist bekanntermaßen begeisterter Sportfan. Gab es in deiner Jugend auch einmal eine Phase, in der du Profisportler werden wolltest?

Jedes amerikanische Kind will einmal Baseball-Spieler werden. Das ist wie bei euch Fußball und natürlich war es bei mir nicht anders. Aber ich war immer zu schlecht dafür, es hätte keinen Sinn gemacht. Ich habe für mein Highschool-Team Fußball gespielt, aber nie daran gedacht, dieses Hobby zur Karriere zu machen.

„Feel The Fire“ hat damals den Punk förmlich geatmet. Ihr seid alle aus der Punk-Ecke gekommen, vor allem Bassist D.D. Verni, hattet damals das punkigste Thrash-Album aufgenommen und mit „Sonic Reducer“ sogar ein Cover der DEAD BOYS drauf. Wusstet ihr eigentlich, dass ihr ein Thrash-Album macht oder war euch das gar nicht klar?

Thrash Metal als Genre gab es noch nicht so wirklich. Wir waren eine Metalband mit Punk-Roots und erst nach diesem Album eine Thrash-Band. Das ging einher mit den fehlenden Regeln, die ich eingangs angesprochen habe. Wir wollten damals kein Thrash-Album machen, aber die Geschichte hat uns eines Besseren belehrt.

Mit dem Gründungsjahr 1980 wart ihr mit OVERKILL auch früher dran als fast alle anderen. 1985 veröffentlichte im Prinzip jede Thrash-Band ein bahnbrechendes Album. Von ANTHRAX, MEGADETH, SLAYER über euch, S.O.D., EXODUS bis hin zu D.R.I. oder DARK ANGEL. Und da sind wir einmal nur in den USA. Herrschte damals großer Wettkampf?

Ich kann hier nur für mich sprechen, aber wir haben uns damals alle gegenseitig geholfen. Es ging ja nur darum, Musik zu machen und keiner hatte einen Plan, was er eigentlich tat. Natürlich waren wir alle Freunde, aber ich denke schon, dass ein Wettkampf stattfand. Wer will schon geschlagen werden? Lass deine Freunde und Feinde nah an dich ran, aber übertrumpfe sie (lacht). Man will ja immer gewinnen, aber es lief alles auf freundschaftlicher Ebene ab. Es gab nie einen Fight zwischen OVERKILL und anderen Bands. Mit EXODUS-Gitarrist Gary Holt habe ich unendlich viele lustige Geschichten in petto. In Bochum haben wir einmal abseits voneinander beide dem Rock-Hard-Magazin ein Interview gegeben. Sie fragten ihn nach dem zweiten EXODUS-Album und er antwortete: „Der einzige Grund, warum wir dieses Teil überhaupt gemacht haben, war der, dass mich Bobby Blitz am Gürtel gepackt hat als ich in New York City fast besoffen über die Stiegen gerasselt wäre“. (lacht laut auf) Wir haben alle eine gemeinsame Geschichte und können uns durchaus als Familie betrachten. Denn seien wir uns ehrlich – auch bei echten Familien herrscht ja Wettkampf.

Gibt es aus dem Jahr 1985 eigentlich ein Album, dass du trotz der Stärken aller hervorheben würdest?

Im Prinzip bevorzuge ich unsere eigenen Alben, weil wir daran gearbeitet haben und unser Herzblut reinsteckten, aber wenn ich eines wählen muss, das für mich wirklich am Überzeugendsten war, dann ist das „Bonded By Blood“ von EXODUS. Und zwar aus dem Grund, dass es alle anderen in den Schatten stellte und so eine ehrliche Aggression hatte. Da war nichts gekünstelt. Wenn du nicht weißt, was du tust, kannst du auch nichts fälschen oder nachträglich verbessern. Und das hörst du dem Album zu jeder Sekunde an.

Hast du damals auch die deutsche Thrash-Szene mit den ersten Alben von DESTRUCTION und KREATOR mitgekriegt?

D.D. und ich haben uns 1984 einen Renault gekauft, nur aus dem einzigen Grund, dass wir durch den Schnee nach Montreal fahren können, um uns DESTRUCTION, VOIVOD und CELTIC FROST anzusehen (lacht). Wir sind sechs Stunden dorthin gefahren und haben dann alle Jungs persönlich kennengelernt und eine wirklich tolle Zeit gehabt. Wir waren damals kurz vor dem Deal mit Megaforce Records und die entstanden aus Rock’n’Roll Heaven. Das war eine Vertriebsfirma, die Alben von DESTRUCTION, RAVEN, ANVIL oder ANGEL WITCH hatten, die man nicht überall bekam. Der Laden war in New Jersey und vor der Megaforce-Ära sind dort alle abgehangen, weil man dort eben das ganze Zeug bekam. So Zeugs wie die legendäre erste DESTRUCTION-EP „Sentence To Death“.

Auf „Feel The Fire“ waren neben dir und D.D. noch Bobby Gustafsson an der Gitarre und Rat Skates an den Drums zu hören. Hast du mit den Jungs noch Kontakt?

Nein, gar nicht mehr. Hier und da teilen mir die Medien etwas mit, aber wir haben keine persönliche Basis miteinander. Solange sie ihren Scheiß machen und mir nicht in die Quere kommen, ist auch alles okay. Das Thema ist beendet. OVERKILL ist eine Band, die seit jeher hart arbeitet. Die beiden Jungs waren irrsinnig wichtig für die Band zu Karrierebeginn. Ich würde ihr Talent und ihre Aufopferung von damals nie in Frage stellen. Ohne die beiden wäre alles nicht so passiert, aber dann kam echt viel Scheiße auf uns zu (lacht).

Habt ihr nach dem Debüt nicht gleich bei Atlantic Records unterschrieben?

Atlantic waren die Vertriebsstelle – diese Vereinbarung hielt bis „The Years Of Decay“ (1989), dann waren wir eine offizielle Atlantic-Band. Megaforce hatten damals uns, TESTAMENT oder MINDFUNK. Die haben unendlich viel Kohle mit uns allen gescheffelt und waren wohl am Ende die finanziell glücklichsten Motherfucker von allen.

Ihr habt „Feel The Fire“ damals in den New Yorker Pyramid Studios aufgenommen. Gibt es eigentlich irgendetwas von damals, was ihr heute im Studio noch gleich handhabt?

Da war natürlich alles analog. Wenn du damals etwas schneiden musst, hast du es tatsächlich mit der Schere oder einer Klinge gemacht. Es war alles so unglaublich simpel, das hat natürlich einen gewissen Charme. Heute kannst du dir so viele Fehler wie du willst erlauben. Du kannst die Leadgitarre total in den Sand setzen, aber mit den richtigen Programmen klingt es am Ende hervorragend. Der Vorteil damals war, dass wir wirklich spielen können mussten. Da gab’s keine Tricks. Der Vorteil von heute ist, dass du die Technik wirklich einatmen und nutzen kannst. Ich möchte nie mehr wieder zu den analogen Tapes zurückgehen. Damals musstet du aber so perfekt spielen, bis das Riff oder das Solo saß. Du hast dir blutige Finger an den Saiten geholt und wenn Stress war, warst du schon mal 17 Stunden durchgehend im Studio, bis es gepasst hat. Es hat alles seine Vor- und Nachteile.

Wo war auf „Feel The Fire“ der textliche rote Faden verortet?

Wenn ich mich zurückerinnere, haben wir lange damit zugebracht, einen Albumtitel zu finden. Auch „First Blood“ war ein großes Thema, weil wir riesige „Rambo“-Fans sind, wie du dann auch am „Taking Over“-Album sehen konntest. Beim Titel haben wir lange gebraucht, die Songs haben wir aber alle innerhalb von drei Monaten geschrieben. Ich war damals noch auf der Uni und besuchte Kurse für mittelalterliche Literatur. Ich habe damals Shakespeare und Keats gelesen und so kamen immer Phrasen aus deren Büchern in meinen Kopf. Mir war es damals wichtig, Charaktere zu erschaffen, weil ich diese Charaktere auch beim Lesen aufgesogen habe. Ich habe im Prinzip mein dreckiges Maul und meinen Straßen-Style mit einem Shakespeare-Ansatz verbunden. Ich habe sogar etwas Französisch verwendet und habe auf die große amerikanische Geschichte „The Legend Of Sleepy Hollow“ verwiesen. Er ist ein hessischer Soldat, der geköpft wurde, in der Nacht erschien und wiederum andere Leute köpfte – wir alle kennen die Story. Der Song „Overkill“ etwa drehte sich um all diese kopflosen Reiter, die mordeten.

Schreibst du Texte heute noch auf gleichem Wege wie damals?

Heute sammle ich viel mehr Phrasen und gehe schon etwas anders vor. Texte sind für mich heute auch mehr politische oder gesellschaftskritische Kommentare. Mir ist es wichtig, Wörter so aneinanderzureihen, dass sie eine gewisse Wucht wiedergeben und einen mitnehmen. Ich schreibe aber schon eher im Fantasy-Modus, vermische gerne Reales mit Fiktivem und erschaffe damit wieder Charaktere. Bei unserem neuen Werk, "White Devil Armory", wollte ich nur einen Charakter, den „Armorist“ haben. Er wird im ersten Song vorgestellt und stirbt am Ende. Anfangs ist er ganz alleine, wenn er am Ende stirbt, befindet er sich inmitten seiner Lieben und realisiert, dass seine Wahl zur Gemeinschaft die richtige war. Ich könnte das aber nie ganz alleine machen – da wäre ich ja der größte Egoist der Welt. Aber mithilfe der Band und den Leuten bei unseren Shows, erschaffe ich damit eine Atmosphäre. Es hat Jahrzehnte gebraucht, bis ich das realisierte. Abstrakterweise kann man sagen, die Handlung auf dem neuen Album spiegelt unsere Karriere wieder. Ist doch interessant oder?

Auf jeden Fall. Direkt auf Politik oder sozialkritische Themen willst du aber nicht eingehen?

Ich denke nicht, dass ich qualifiziert dafür bin, den Leuten eine politische Meinung auf den Tisch zu legen und ihnen vielleicht zu sagen, was sie zu tun haben. Der größte Fehler, den alle Bands machen ist jener, dass sie nach zwei erfolgreichen Alben glauben, sie wären klüger. Das ist absoluter Bullshit (lacht). Wenn du schon beim ersten Album ein Trottel warst, dann erzählen dir die Leute ja nur, du wärst klüger – aber natürlich ändert sich nichts (lacht). So denke ich darüber. Wir können gerne über alles diskutieren, weil ich sehr an Politik interessiert bin. Ich lese jeden Morgen im Internet die Zeitungen. Ich will ja wissen, in welche Richtung Mr. Obama die vielen Millionen Dollar verprasst (lacht). Aber bei OVERKILL-Texten hat das keinen Platz.

Also wird es doch eher was mit einem reinen Shakespeare-Album?

Höchstwahrscheinlich nicht. Ich habe damals schon alle Ideen dafür verbraten. Ich hatte Kommunikation als Hauptfach auf der Uni, was auch ziemlich praktisch für einen Frontmann einer Band ist (lacht). Es gab übrigens nie einen Moment, wo ich mal nichts zu sagen wusste. Das ist wohl das Wichtigste, das ich von der Uni mitnahm neben ein paar Studio-Tricks, die ich in technischen Kursen lernte.

Es gibt viele Leute die behaupten, das Cover von „Feel The Fire“ gehöre zu einem der hässlichsten der Thrash-Metal-Historie.

Ich mag das verdammte Cover. Gleich wie „Taking Over“ – auch das liebe ich. Du willst sicher noch eine verdammte Old-School-Analog-Geschichte hören oder? Okay, los geht’s. Wir waren in New York und benötigten ein Artwork. Wir haben also eine Wand aus Stroh und Heu gebastelt, haben das alles mit Plastik überzogen und darauf Wasser geschüttet. Dann kam das Benzin dazu und wir haben das Zeug vor uns angezündet. Wir haben damals so viel gelacht, weil wir das Album schon „Runaway“ nennen wollten. Es war dort so heiß, dass uns die ersten Bilder nur beim Wegrennen gezeigt haben (lacht). Wenn du also am Cover die Arme so komisch wegstehen siehst, liegt das daran, dass wir uns tapen mussten, weil wir solche Schmerzen hatten. Immerhin hat uns das Feuer die ganzen Haaren auf den Händen abgesengt (lacht). Das war verdammt irre. Es gab damals natürlich kein Photoshop. Du musstest das verdammte Bild hinkriegen und dafür auch was tun.

Zudem habt ihr angeblich mehr als eine Million Alben davon verkauft. Das ist eigentlich eine unglaubliche Zahl.

Das stimmt auch nicht. Das ist so ein typischer Wikipedia- oder Internet-Mist. Das Internet kann dein Freund sein, muss es aber nicht. Die Wahrheit ist schwer zu sagen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen etwa 500.000. Aber da zählen alle Alben bis „The Years Of Decay“ dazu – und zwar weltweit. Wir bekamen damals Gold eben für 500.000, aber für alle Alben. Das war auch inoffiziell.

Nach „Feel The Fire“ hast du auch Gesangsstunden genommen. Weshalb?

Ich hatte Polypen im Hals und wusste nicht mehr, wie ich gut singen könnte. Ich konnte etwas vortragen, schaffte es aber nicht, das zu wiederholen. Das hat meinen Hals fast ruiniert. Meine Mutter, die übrigens über 80 ist und immer noch wie ein Vogel singt, hat mir eingebläut, dass ich auf die Stimme achten sollte, ansonsten wäre sie weg. Die Leute von der Plattenfirma haben mich dann zu Don Lawrence gebracht, der viele berühmte Sänger hatte. Zum Beispiel auch James Hetfield oder Dee Snider von TWISTED SISTER. Ich erinnere mich an eine Riesenshow in New York. Ich stand gerade in meiner Garderobe und habe meine Stimme aufgewärmt, um die Show über die Runden bringen zu können. Plötzlich kamen Hetfield und Lawrence die Stiege runter und haben mich damit verarscht (Bobby singt herum). Diese Ärsche (lacht).

Wenn man vom US-Thrash spricht, kommt man an den sogenannten „Big Four“ nicht vorbei. Viele Leute würden aber OVERKILL und EXODUS eher drinnen sehen, als ANTHRAX und die stilistisch veränderten METALLICA. Wie siehst du diese Situation?

Ich bin sehr dankbar und auch bescheiden und mir ist das eigentlich scheißegal. Ich bin mir sicher, dass die Koffer der Jungs von den vier Bands mit ziemlich viel Geld gefüllt wird und es ist sicher auch gut für sie. Aber damit geben sie auch uns in der zweiten Reihe viel Aufmerksamkeit ab. Völlig egal ob die Leute dich mögen oder nicht – sie reden zumindest von dir. Eigentlich mache ich mir da keinen Kopf und die meiste Zeit beantworte ich deine Frage mit: „Wer?“ (lacht laut auf)

Aber OVERKILL und EXODUS machen von den „US-Thrash-Dinosauriern“ die mit Abstand stärksten Alben in der Gegenwart.

Irgendwann mitten in den 90er-Jahren saß ich mit D.D. auf einen Kaffee zusammen und habe eine angeregte Diskussion geführt. Es ging darum, wann wir ein weiteres Album machen, welche Richtung wir einschlagen würden und wie es weitergehen sollte. Keine Ahnung – wir machen einfach was wir wollen. Das war die Antwort darauf. Wir hatten keinen Plan, aber es machte Sinn. OVERKILL waren damals schon etwa zehn Jahre unbedeutend und wenn du einmal auf diesem Level bist, hast du wirklich gar nichts mehr zu verlieren (lacht). Diese Einstellung haben wir uns einfach behalten. Möglicherweise ist das die Formel, mit der bei uns alles so gut funktioniert.

Etwa seit dem Album „Immortalis“ im Jahr 2007 habt ihr wieder ungeheuer an Popularität gewonnen. Hättet ihr jemals mit so einer Art von „Comeback“ gerechnet?

Eigentlich nicht. Wir haben einfach immer weitergemacht. Wir fuhren nie nach Hause, um für unsere Eltern zu arbeiten, sondern haben die Band auch dann betrieben als all das unpopulär war. Es war uns einfach egal. Wir haben uns natürlich um unsere Marke gekümmert und um unsere Fans. Das war klar. Aber es war egal, was VIVA oder MTV machten. Das war völlig scheißegal und mit so einer Einstellung kannst du auch nicht verlieren. Für mich bedeutet OVERKILL noch immer abhängen mit einem Haufen Menschen, die den gleichen Scheiß mögen wie ich. Ich habe ja auch keinen harten Tag. Ich mache ein paar Interviews, trinke ein paar Biere und bange meinen Schädel so lange, bis mir die Scheiße aus den Ohren tropft (lacht). Wer hat schon die Möglichkeit, das so zu machen? Ich bin einfach sehr glücklich mit meinem Job und habe auch bemerkt, dass alle Menschen in meinem Umfeld das auch so verstanden haben.

Nach eurem Debütalbum wart ihr mit SLAYER, MEGADETH oder NUCLEAR ASSAULT unterwegs. Unglaubliche Band-Pakete. Kannst du das Touren von damals irgendwie mit heute vergleichen?

Es gibt immer noch viele Ähnlichkeiten, aber die Energie war damals schon ärger. Moshen war damals eine eigene Kunstform, die dementsprechend heftig ausgeführt wurde. Heute ist das alles etwas angenehmer. Aber der Enthusiasmus ist wohl ähnlich. Wenn du ein Kid bist und auf eine Band stehst, dann gehst du so oder so ab. Das macht keinen Unterschied zwischen 1985 und 2015. Die Touren waren eine großartige Erfahrung, weil man viele Freundschaften schloss. Mit Dave Mustaine verbindet mich noch heute eine gute Beziehung. Ich verstehe auch nicht, warum alle so auf ihn hinhacken? Das ist der netteste Mensch des gesamten Musik-Business. Er kümmert sich täglich um jeden und fragt dich immer, wie es dir geht (lacht)

Ist es aus physischer Sicht nicht viel schwieriger, solche Shows mit Mitte 50 durchzuhalten?

Na sicher, das ist unumstößlich. Es ist ja ganz einfach. Dein Körper toleriert sehr viel, doch wenn er Warnzeichen ausstößt, musst du darauf hören. Auf Tour hast du in der ersten Woche einen irrsinnigen Adrenalinausstoß bist du plötzlich merkst, dass du keine 25 mehr bist (lacht). Auf der Bühne sind wir noch die gleichen Tiere, aber abseits davon treten wir stärker auf die Bremse. Wenn wir 90 Minuten auf der Bühne Vollgas geben, dann nützen wir später auch 150 Minuten für gutes Essen, Schlafen oder Alkohol in Maßen. Das schlägt sonst zurück. Etwas, auf das ich bei OVERKILL besonders stolz bin: Wir haben niemals jemanden verarscht. Es gibt keine Show, die wir nicht spielen wollten. Wir geben immer Vollgas und wollen das auch. Das ist stärker als der Altersfaktor.

Überrascht es dich, dass so viele junge Leute OVERKILL für sich entdecken?

Anfangs schon, aber wenn du darüber nachdenkst, macht das Sinn, weil auch die jüngeren Generationen zur Ursprungsmusik zurückkommen. Es gab Festivals, da waren Opas mit ihren Enkeln bei unseren Gigs. Das ist einfach unglaublich. Du stehst da und denkst dir: „Wie alt bist du? Verdammte elf?“ (lacht) In New Jersey brachte so ein Typ Sohn und Tochter zur Show und wir machten ein Foto. Ich habe das kleine Mädchen dann hochgehoben und sie gefragt: „Na? Ist das dein erstes Konzert?“ Und sie antwortete: „Nein, ich habe schon ANTHRAX und TYPE O NEGATIVE gesehen.“ (lacht) Was für ein großartiger Dad! Die Technologie macht auch den Zugang zur Musik leichter und jeder hat die Wahl. Das ist wohl auch der Vorteil, nicht in den „Big Four“ zu sein. Du kannst uns nicht wegwerfen, wir entscheiden, wann wir die Bühne verlassen (lacht).

Mittlerweile gibt es so viele talentierte junge Thrash-Bands und trotzdem finden die jungen Fans immer wieder zu alten Hasen wie euch zurück.

WARBRINGER zum Beispiel sind eine wirklich gute Band, die echt starke Alben herausgebracht hat, aber für mich klingen sie schon verdammt nach EXODUS oder nicht? (lacht laut auf) Ich liebe es aber, mit jungen Bands zu touren, weil du einfach mehr geben musst, um den größtmöglichen Energielevel zu erreichen. Der Wettbewerb bei Konzerten ist einfach höher. Ich sage dann immer: „Ich wünsche euch eine wirklich gute Show, aber mein Job ist es, dich und deine verdammten Freunde hier und heute zu begraben.“ (lacht) Hör dir doch einfach nur die letzten Alben von uns, EXODUS oder TESTAMENT an – wir wollen nicht geschlagen werden.

Junge Bands haben es aber schon ziemlich schwer, noch etwas Neues, Eigenständiges zu machen.

Das ist der Punkt. Sie müssten schon einen Mord begehen, um an die Spitze zu kommen (lacht).

Ihr habt augenscheinlich genug Energie und Motivation, um weitere Alben zu machen.

Ich bin schon länger bei OVERKILL als verheiratet. Das einzige was ich wohl länger mache, ist rauchen – und sogar damit habe ich schon aufgehört. Die Band ist nicht nur meine Karriere, sondern mein Leben. Klar – wenn es oft ums Business geht, wird es auch mal mühsam, aber es gibt nichts Fruchtbareres, Erfreulicheres und Motivierenderes als bei OVERKILL zu spielen.

Du bist neben deiner Frau noch Mitbesitzer einer Chocolaterie in New York. Ist das die sanfte Seite von Brüllwürfel „Blitz“ Elsworth?

Letzten Oktober haben wir bereits das zehnjährige Jubiläum gefeiert. Die Firma ist in einem kleinen Dorf neben New York City. Die Gegend ist recht unkonventionell. Dort gibt es gleichermaßen reiche Leute und Filmstars, wie auch arme Menschen und die Mittelklasse. Es ist ziemlich nah am Hudson River und es gibt dort Bowlingcenter und viele Apartments in der Gegend. Für diese Art von Geschäft perfekt. Wir hatten sogar mal zwei Läden, aber das war zu viel. Vor allem, weil ich mit OVERKILL sehr oft länger unterwegs bin. Seit wir wieder nur ein Geschäft haben, wirft es auch finanziell etwas ab. Ich bastle zudem noch an alten Autos und Motorrädern herum und habe mein Finger auch in einem anderen Unternehmen im Spiel, das aber von jemand anderem geleitet wird. Ich sagte ja, ich führe ein ziemlich nettes Leben (lacht).

Wenn du mal mit OVERKILL aufhörst, wird man dich dann wirklich in deinem Schokoladen-Shop stehen sehen?

Meine Frau emigrierte aus Europa und ich war anfangs sehr stark in das Geschäft involviert, weil sie noch keine Ahnung davon hatte. Ich hatte großes Glück, dass mein Vater und mein Bruder so stark mitgeholfen haben. Ich habe da auch eine lustige Story dazu. Ich habe das ganze Geschäft bemalen und besprayt. Ich habe also die ganzen Scheiben mit Zeitungen verklebt und den Laden einmal grundiert. Ich habe einfach alles vollgesprayt. Ich hatte eine Schutzbrille auf und mein Haar geschützt. Als ich von einer Scheibe das Zeitungspapier runterkratzte, stand draußen plötzlich so ein Typ mit einem Nasenring und spielte Luftgitarre. Er spielte „Skullcrusher“. Das war so genial (lacht). Wir kreuzen auch die Märkte, denn in der Urlaubszeit haben wir auch OVERKILL-Zeug im Laden. Dort hängen dann Bilder, es gibt Plektren und alles Mögliche an OVERKILL-Merchandise zu kaufen.

Wie schaut es mit einer OVERKILL-Schokolade oder einem OVERKILL-Kuchen aus?

Das würde wohl nach einem ziemlich beschissenen Bonbon schmecken (lacht). Unser Hauptlieferant ist aus Brügge in Belgien und meine Frau Annette kommt eigentlich aus Holland, sie kennt Brügge also. Wenn sie ihre Mutter besucht, dann schaut sie dort in der Fabrik vorbei, um nach neuen Schokoladen anzufragen. Die hatten noch niemanden vorher, der sich so um die Ware sorgte, sodass sie eine handgemachte Schokolade nach meiner Frau benannten. Das gab es noch nie zuvor (lacht). Sie ist jedenfalls der Star in diesem Business, nicht ich.


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